Dissertationsprojekt Alan van Keeken
Die Heimorgel gehörte in Westdeutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert zu den erfolgreichsten elektronischen Instrumenten. Sie galt in der „Aufstiegsgesellschaft“ der BRD der Wirtschaftswunderjahre als (klein)bürgerliches Statussymbol und „teures“ Hobbygerät, das den einfachen Einstieg in das Musizieren erlaubte – dies vor allem dank technischer Hilfestellungen wie Rhythmusmaschinen und Begleitautomatiken. Befeuert und am Leben gehalten wurde dieses Heimorgelfieber durch Virtuosen der elektronischen Orgel wie Klaus Wunderlich, Franz Lambert und Ady Zehnpfennig. Sie verkauften Millionen von Tonträgern und machten die Instrumente auch in Funk und Fernsehen einem breiten Publikum vertraut. Ihre halsbrecherischen Registerwechsel und aufwendigen Arrangements des musikalischen Mainstreams zwischen Schlager, „populärer“ Klassik und Tanzmusik standen dabei einer „Ein-Finger-Generation“ auf Seiten der Kund*innen gegenüber, wie rückblickend bereits in den 1980er Jahren diagnostiziert wurde. Vor diesem Hintergrund erwies sich der Status der elektronischen Heimorgel als vollwertigem Instrument häufig als prekär, zu nah schien die stets neuste (Klang-)Technologie und die vielen spieltechnischen Vereinfachungen der Maschine bzw. den Musikwerken. Das tat ihrem kommerziellen Erfolg keinen Abbruch: Internationale wie auch heimische Firmen (hier vor allem Hohner, Wersi, Dr. Böhm) verkauften nicht nur die Instrumente selbst sondern schufen ein ganzes Ökosystem aus Notenliteratur, technischen Erweiterungen, Musikschulen und Zubehör, um das bis in die 1980er-Jahre vorhandene Potential abzuschöpfen. Im Gegensatz zu anderen Instrumenten populärer Musizierpraxis hat das Instrument jedoch kein Revival erlebt: Nach der Ablösung durch Arrangerkeyboards und Audioworkstation verstaubten sie auf Dachböden oder wurden gleich verschrottet. Zu tausenden werden die Instrumente heute auf Gebrauchtbörsen zu Spottpreisen angeboten, die wenigen verbliebenen Hersteller haben sich auf aufwendige Einzelanfertigungen spezialisiert, die Musikkultur ist zur Nische geworden.
Ziel der Arbeit ist es, die Heimorgel aus von ihrer technologischen, wirtschaftlichen und musikpraktischen Seite (vor allem in Bezug auf die Nutzung im häuslichen Bereich) her zu beleuchten und nachzuvollziehen, welche Faktoren ihren Erfolg bestimmt haben – sowohl auf der Makro- wie auch auf der Mikroebene. Darüber hinaus sollen die technischen Voraussetzungen und instrumententechnischen „Probleme“ der Instrumentengattung rekonstruiert werden: Welche Rolle spielte z. B. die großflächige Verbreitung des Transistors in der Unterhaltungselektronik Ende der 1950er-Jahre? Auf welche instrumentengeschichtlichen Vorbilder beziehen sich Anlage und Vermarktung der Heimorgel? Ein Teil dieser Rekonstruktion besteht aus dem experimentellen Nachvollzug zentraler Schaltungen und technischer Prinzipien wie dem Top Octave Synthesizer oder verschiedenen Strategien, den Klang zu beleben.
Mein Dissertationsprojekt versteht seinen Gegenstand dabei weniger als klar umrissene Instrumentenkategorie im Sinne organologischer Systematiken, sondern vielmehr ihrer Vermarktung und ihres Gebrauchs nach als elektronisches Instrument für das private Musizieren im häuslichen Umfeld. Demensprechend wird ein Hauptteil der Dissertation in der Aufarbeitung der Produktionsseite durch Archivarbeit, Expert*inneinterviews und die Auswertung von Fachpublikationen als Forum der Hersteller bestehen. Eine Hypothese ist hier die der „Schaffung eines Marktes“ durch teils sehr aufwendige Bekanntmachung des Instruments in der Öffentlichkeit und der gezielten Erschließung nicht musikalisch sozialisierter Käufer*innengruppen. Im dritten Teil steht die Einbettung der elektronischen Heimorgel in das Heim, seine lebensweltliche und spieltechnische Domestikation im Mittelpunkt. Wie und in welcher Intensität wurde auf dem Instrument gespielt? Welche idiosynkratischen Idiome bildeten sich gerade in Bezug auf die Verwendung von Begleitautomatik und Rhythmusmaschine bzw. die emulativen Elemente aus? Wo wurde es aufgestellt? Und welche „Dingbiografie“n lassen sich in den Beobachtungszeiträumen nachzeichnen? Zuletzt werden zwischen den Kapiteln kurze, audio-visuelle Musikanalysen ausgewählter Fernsehauftritte, Tonaufnahmen und Notenausgaben eingeschoben, die schlaglichtartig die (populäre) Musik beleuchten, die tausende Heimorgelspieler*innen inspirierte und zum (klanglichen) Vorbild gereichte.